
Über viele Jahre hinweg prägte das Positionsspiel maßgeblich den Weltfußball – ein System, das in seiner heutigen Form maßgeblich auf Pep Guardiola zurückgeht. Der spanische Trainer strukturierte das Spielfeld in rund 20 Zonen und ordnete jedem Spieler eine spezifische Zone zu, die er konstant besetzen sollte. Sobald die Raumaufteilung stimmte, bildeten präzise, raumöffnende Pässe das Fundament dieser Spielidee.
Ziel war es nicht nur, durch eine klare Ballbesitzstruktur Kontrolle zu erlangen, sondern dem Gegner gleichzeitig eine bestimmte Defensivformation aufzuzwingen. Das Positionsspiel dominierte die 2010er-Jahre und gilt bis heute als die gängigste Methode, um eine Mannschaft im Ballbesitz zu organisieren. Doch in den letzten Jahren ist eine neue Strömung ins Rampenlicht gerückt, die mit einigen Grundsätzen des Positionsspiels bewusst bricht – der sogenannte Relationismus.
Welchen Ursprung hat der taktische Ansatz des Relationismus?

Auf der ganzen Welt hat sich der Trend des Positionsspiels verbreitet – Trainer konnten so deutlich mehr Einfluss auf das Spiel nehmen, da Spieler auf dem Platz in ein taktisches Korsett gedrückt wurden, ihnen aber auch erleichtert hat Entscheidungen zu treffen. Ein brasilianischer Trainer entwickelte daraufhin einen Gegenentwurf zu Guardiolas strukturiertem Stil – Fernando Diniz, damals bei Fluminense de Janeiro und heute Trainer bei Vasco da Gama, entwickelte den Relationismus als Antwort auf das Positionsspiel, um seinen Spielern wieder mehr Freiheiten zu geben. Dass das System erfolgreich sein kann, beweist vor allem der Sieg Fluminenses bei der Copa Libertadores im Jahr 2023.
Aber nicht nur im südamerikanischen Bereich findet der Relationismus seinen Nutzen, sondern hat auch den Weg über den Atlantik nach Europa gefunden. Ein Beispiel ist vor allem Malmö FF, trainiert von Henrik Rydström, der gegen den Ball den europäischen strukturierten Ansatz mit dem Relationismus im Ballbesitz verbindet. Dass dieser Stil talentierte Spieler hervorbringen kann, zeigt das ehemalige Malmö FF-Talent Sebastian Nanasi. Er beweist heute in Frankreich seine ausgeprägten Fähigkeiten in der Entscheidungsfindung – eine Stärke, die er besonders durch den relationistischen Ansatz weiterentwickelt hat.
Auch bei anderen Trainern findet der Trend seinen Anklang. Luciano Spaletti, Carlo Ancelotti und Lionel Scaloni sind weitere prominente Beispiele, bei denen Muster des Relationismus zu erkennen sind.
Was ist Relationismus?
Die Prinzipien des Relationismus basieren vor allem auf Kontrolle, Dominanz und eine bestimmte Raumbesetzung im Ballbesitz. Diese ähneln auf dem ersten Blick zwar immens dem Positionsspiel, sind jedoch in der Umsetzung völlig anders zu verstehen.
Beim Relationismus gibt es zwar erst einmal eine grundsätzliche Formation, wird im Ballbesitz jedoch komplett aufgebrochen. Statt klar definierter Positionen gibt es nur eine einfache Unterteilung in Tor- und Feldspieler. Jeder Feldspieler – vom Verteidiger bis zum Angreifer – kann zu einem Spielmacher werden, aufrücken und Chancen kreieren.
Das Ziel ist es sich schnell und vertikal vor das gegnerische Tor zu kombinieren. Dies wird vor allem durch Raumüberladungen in Ballnähe erreicht – alle Spieler sollen sich rund um den Ball positionieren. Dabei kann sowohl das Zentrum oder einer der beiden Flügel überlagert werden – eine Sache ist dabei immer gleich: Die Spieler sind eigenverantwortlich und haben kein taktisches Korsett, in welches sie gezwängt sind.
Die Spieler kombinieren sich mit einem Kurzpasspiel im Raum kontinuierlich nach vorne, bilden Dreiecke oder Rauten auf engem Raum und selbst wenn ein Angriff abgebrochen wird, ist der Pass in den Druck wieder die erste Wahl. Dadurch, dass die Spieler alle in Ballnähe rücken, führt außerdem dazu, dass der Gegner sich ebenfalls kompakt im Zentrum oder auf dem Flügel formieren muss – was häufig dazu führt, dass sich auf der anderen Seite Räume öffnen.
Spielszenen


Relationismus und die Grenzen des Möglichen

Auf den ersten Blick erscheint Relationismus wie eine Revolution in der Phase des eigenen Ballbesitzes und eine Reaktion auf das Positionsspiel, das den Spielern viel Eigenverantwortung genommen hat. Doch wie nachhaltig ist diese Entwicklung?
Der relationistische Ansatz wird das Positionsspiel nicht völlig ersetzen, da ein unfassbares technisches Level der Spieler benötigt wird und die taktische Schulung tief in den Jugendbereich auf das »Positional-Play« ausgerichtet ist. Guardiola hat mit seiner Idee nachhaltig den Fußball so stark reformiert, dass Spieler auf seine Idee ausgebildet werden. Vor allem ist zu hinterfragen, ob Fernando Diniz mit dieser Idee in Europa überhaupt Erfolg gehabt hätte. Der europäische Fußball lebt vor allem auch von pragmatischen Systemen im tiefen Block und Umschaltsituationen, die den Ansatz von Fernando Diniz wahrscheinlich stark gekontert hätte.
Allerdings wird der Relationismus in einem Hybridsystem gemeinsam mit dem Positionsspiel mit der Zeit mehr Anklang finden. Carlo Ancelotti hat mit einer Mischung aus beiden Welten eine Champions League im Jahr 2024 mit Real Madrid gewonnen – das Mittelfeld der Madrilenen war in diesem Jahr relationistisch strukturiert und dermaßen flexibel, wohingegen die letzte Linie und die Breite jeweils positionell organisiert waren.
Was die brasilianische Idee allerdings ermöglicht, ist, dass der Fußball wieder deutlich flexibler wird und den Einzelspieler stärker in den Vordergrund rückt. Sie bringt das »Joga Bonito« zumindest teilweise zurück und kann als eine Teilrevolution betrachtet werden.
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